One-Size-Does-Not-Fit-All: Unterscheiden sich Kunden an der Supermarktkasse?

Das Kassenerlebnis ist nicht für alle gleich

Plauderkasse Migros

Können Sie dieses Szenario nachvollziehen? Es ist Mittagspause. Ein Kunde steht am Laufband der Supermarktkasse, um seinen Fertigsalat und das Vollkornbrötchen zu bezahlen. Die Kundin vor ihm kramt seelenruhig in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld, während ihr Begleiter mit der Kassiererin noch die neuesten Quartier-Lästereien austauscht. So fängt der Kunde nervös zu wippen an und muss sich regelrecht zusammenreissen die Augen nicht zu verdrehen. Schliesslich ist seine Stunde Mittagspause kurz, und davon möchte er nun wirklich keine Zeit an der Kasse verschwenden.

Ein kurzer Perspektivenwechsel. Es ist kurz nach 12 Uhr mittags, eine Kundin steht an der Kasse ihres Quartier-Supermarktes und bezahlt ihren Lieblingskräutertee und die Butterguetsli, die sie nachmittags während des Home Offices so gerne nascht. Das ist ihr Ritual. Den kleinen Betrag will sie mit ihren Restmünzen bezahlen. Anita, die Kassiererin, erkundigt sich noch nach ihren Kindern, und ob die Familie die Herbstferien genossen hat. Dass sie so aufmerksam ist, schätzt die Kundin sehr. Aber sie spürt, dass der Kunde hinter ihr etwas nervös wird und ein bisschen näher aufrückt. Sie bemüht sich, ihre Waren so schnell wie möglich zu bezahlen, und verzichtet darauf, eine detaillierte Version der Herbstabenteuer zu geben. Schade… Anita freut sich immer, von den Kindern zu hören. Aber weil der Kunde es hinter ihr offensichtlich eilig hat, sputet sie sich.

Wir sehen hier zwei komplett unterschiedliche Kunden. Und das ist exemplarisch. Die Menschen am Rollband der Supermarktkasse haben weder die gleichen Verhaltensweisen noch die gleichen Bedürfnisse. Es gibt keine generischen Supermarktkunden.

Doch welche Massnahmen kann ein Unternehmen wie ein Supermarkt treffen, um den Check-Out-Prozess so angenehm wie möglich zu gestalten, um den verschiedenen Kundenbedürfnissen gerecht zu werden? Die Antwort darauf kann man auf der Stimmt-Blog, in unseren YouTube-Videos oder im Kontext der Design Management Theorie bekommen: Man kann Kundinnen und Kunden mit gleichen Verhaltensmustern in Gruppen zusammenfassen. 

Dadurch entstehen Personas. Das sind  fiktive Stellvertreter der jeweiligen Kundengruppen. Sie beschreiben die Bedürfnisse, Motivationen, Erwartungen, Aufgaben und Ziele, welche das Verhalten dieser Gruppe in einem speziellen Angebots-Kontext beeinflussen. Personas darf man nicht mit Zielgruppen oder der klassischen Marktsegmentierung verwechseln. Diese werden nämlich nach soziodemografischen Daten wie Alter, Geschlecht, Wohnort und Einkommen eingeteilt. Personas kategorisieren sich nach Bedürfnissen und Verhaltensmustern.

«Personas machen Kundinnen und Kunden greifbar und helfen, sich auf echte Kundenbedürfnisse zu fokussieren.»

Wir haben gesehen, dass Kunden individuelle Vorstellungen vom idealen Kassen-Erlebnis haben. Diese Kundenbedürfnisse und vor allem auch die Unterschiede müssen wir kennen, um die richtigen Entscheidungen für die Gestaltung des Prozesses zu treffen. Es genügt nicht, sich einfach nur «die Kunden» vorzustellen. Für eine faktenbasierte Persona-Analyse müssen echte Daten und Modelle her.

Bei Stimmt sammeln wir diese durch Beobachtungen und Befragungen in Form von Interviews. Für die obigen Beispiele können wir aber auch auf unsere zwei Jahrzehnte Erfahrung zurückgreifen. Wir haben aus über 2500 Interviews sechs Verhaltens-Treiber definiert, die wir bei Menschen in einem Kontext finden. Und in diesem Kontext können wir dann auch Personas bilden. 

Das heisst zum Beispiel, dass Kundinnen und Kunden im Mittagspausen-Stress es als mühsam empfinden, unter Zeitdruck in einer Schlange zu stehen, weil sich die Minuten dann extra in die Länge ziehen. Viele Supermärkte, deren Infrastruktur es zulässt, wirken dem mit Self-Checkout-Kassen entgegen und ermöglichen den Kundinnen und Kunden einen schnellen Zahlprozess.

Die Menschen, die diese Self-Checkout-Kassen bevorzugen, nennen wir in unserer Theorie die Selbermacher:innen: Bei dieser Persona wird Autonomie – die Fähigkeit, selber zu entscheiden und zu handeln – grossgeschrieben. In unserem Beispiel möchten die Selbermacher:innen den Kaufprozess möglichst effizient hinter sich bringen. Persönlicher Kontakt zur Kassiererin oder Kassier ist ihnen egal. Fragen nach Kundenkarten, Kassenzettel und Märkli werden als noch mehr Zeitverschwendung empfunden. An der Self-Checkout-Kasse können sie in ihrem eigenen Tempo ihre Einkäufe scannen und schnell bezahlen.

Dann gibt es noch die Kundengruppe, denen die Self-Checkout-Kassen suspekt oder unbekannt sind. Sie verlassen sich auf das altbewährte, bediente Kassensystem. So laufen sie auch nicht Gefahr, versehentlich etwas vergessen zu scannen, möglicherweise kontrolliert zu werden und Konsequenzen ertragen zu müssen. Sie verlassen sich auf das Personal. In unserer Theorie nennen wir diese Kundentypen die Abgeber:innen: Diese Persona schätzt reibungslose und unkomplizierte Abläufe ohne Konflikte. Sie benutzt lieber die bediente Kasse, da ihr der Ablauf bekannt ist. Zeit ist wichtig, aber nicht essentiell, und der persönliche Kontakt an der Kasse ist ein Nice-To-Have. Für die Abgeber:innen muss es einfach sein.

Doch was ist mit den Kundinnen und Kunden, die den persönlichen Kontakt an den Supermarktkassen besonders suchen und schätzen? Auch für diese Kundentypen gibt es in unserem Modell eine Persona: die Vertrauenden. Diese Kundentypen haben einen bevorzugten Supermarkt, in dem sie sich auskennen und wohlfühlen. Die meisten Kassierer sind ihnen persönlich bekannt. Der Kontakt und der kurze Austausch sind ein Highlight bei jedem Einkauf und tragen zur Favorisierung des jeweiligen Supermarktes oder sogar des Unternehmens bei.

Nun könnte man sich vorstellen, dass diese Persona bei den Unternehmen nicht unbedingt beliebt ist, da sie ressourcenaufwändig erscheint. Dass das aber nicht unbedingt der Realität entspricht, zeige ich Ihnen an einem aktuellen Beispiel.

Im Herbst 2022 lancierte der gemeinnützige Verein «Gsünder Basel» in Kooperation mit einer Basler Migros Filiale und TopPharm Apotheke das Pilotprojekt «Plauderkasse», an der sich die Verkäuferinnen und Verkäufer bewusst Zeit nehmen, um mit ihren Kundinnen und Kunden einen gemütlichen Schwatz ohne Zeitdruck zu halten.

(Bildquelle: https://www.srf.ch/news/schweiz/pilotprojekt-in-basel-mit-plauderkassen-gegen-die-einsamkeit)

Wie der Verein auf seiner Homepage schreibt, wird die Plauderkasse während sechs Monaten zwei Mal pro Woche für drei Stunden geöffnet. Das Ziel dieses Projektes ist es, «den Kontakt unter den Kundinnen und Kunden [zu] fördern und auf bestehende Unterstützungsangebote zur sozialen Teilhabe in der Region Basel aufmerksam [zu] machen». Wenn die Testphase erfolgreich abgeschlossen wird, soll dieses Konzept schweizweit umgesetzt werden.

Wenn Sie jetzt denken, dass die Plauderkasse doch vor allem für einsame Rentnerinnen und Rentner über 75 Jahre attraktiv ist, möchte ich noch einmal betonen, dass Personas eben nicht zwingend nach Alter und Beruf segmentiert werden. Denn genau das Gegenteil wird durch den aktuellen Medienrummel um die Idee bewiesen. Die Begeisterung der Gen Z’s auf Social Media Plattformen wie TikTok ist riesig, und auch die Millennials teilen ihre meist positiven Meinungen über das Konzept auf den gängigen News-Outlets.

Migros Kassen Personas

Fazit: Mit dem Beispiel der Plauderkasse zeigt die Migros als Supermarktkette, dass das Kassenerlebnis nicht für alle gleich sein muss. Die Selbermacher:innen, die Abgeber:innen und die Vertrauenden haben durch den Self-Checkout, die «normale Kasse» und die Plauderkasse eine für sie passende Checkout-Möglichkeit innerhalb derselben Infrastruktur, basierend auf ihren Bedürfnissen und Verhaltensweisen – ein tolles Beispiel von kundenzentrierter Prozessinnovation, die auch ökonomisch Sinn macht.

Ihr Ansprechpartner für Fragen und weitere Informationen:

Marina Gutzwiller
marina.gutzwiller@stimmt.ch
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